Von März 2023 bis Dezember 2024 haben die BildungsBausteine das Projekt „Zusammen_denken, zusammen handeln – Spannungsfelder der antisemitismus- und rassismuskritischen Bildung konstruktiv bearbeiten“ umgesetzt. Zum Abschluss des Projekts möchten wir im Folgenden die Ausgangssituation sowie ihre Veränderungen im Projektverlauf – insbesondere durch den 7. Oktober 2023 und den direkt danach begonnenen Gazakrieg – und unsere in diesen 22 Monaten gesammelten Erfahrungen reflektieren; abschließend geben wir einen kurzen Ausblick auf unsere geplante Weiterarbeit an diesem Themenfeld.
Oberflächlich und auf der verbalen Ebene betrachtet, sprechen sich in der demokratieorientierten Bildung und Zivilgesellschaft praktisch alle Akteur*innen sowohl gegen Rassismus als auch gegen Antisemitismus aus. Bei genauerer Betrachtung stellen wir jedoch häufig fest, dass auch bei Adressat*innen, die sich (im weiteren Sinne) als diskriminierungskritisch verstehen, die Aufmerksamkeit gegenüber beiden Phänomenen in der Praxis oft sehr ungleich verteilt ist, bis hin zur völligen Indifferenz gegenüber einem der beiden Diskriminierungs- und Ungleichheitsverhältnisse. Gleichzeitig schien sich schon vor dem Herbst 2023 bei mehr und mehr Menschen der Eindruck zu verbreiten, die Bekämpfung von einerseits Antisemitismus und andererseits Rassismus stünde im Widerspruch zueinander und es sei in Bezug auf bestimmte Themen nur möglich, entweder gegen das eine oder gegen das andere zu sein. Daraus resultieren immer wieder Polarisierungen und Spaltungen innerhalb der pädagogischen und zivilgesellschaftlichen Landschaft, die manche Fachkräfte und Engagierte stark verunsichern und dazu führen, dass sie die Auseinandersetzung mit diesen Themen meiden und/oder sich aus Debatten und Engagement zurückziehen. Durch das antisemitische Massaker der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023 sowie den dadurch ausgelösten, bis heute andauernden Gazakrieg, die weit über diskriminierungskritische Akteur:innen hinaus zu zahlreichen Verunsicherungen, Frustrationen und Verwerfungen geführt haben (und noch führen), hat sich diese Entwicklung weiter verstärkt.
Eine Ursache dieser polarisierenden, in den Bildungsbereich hineinwirkenden Debatten liegt unseres Erachtens im vieldiskutierten Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus bzw. unterschiedlichen Rassismen zueinander, das uns in Theorie und Praxis immer wieder vor verschiedene Herausforderungen stellt. Einerseits weisen beide viele Ähnlichkeiten auf: Die jeweiligen Gruppenkonstruktionen basieren auf sehr ähnlichen Differenzmarkern wie ‚Kultur‘ oder Religion und stellen auf (vermeintliche) Zugehörigkeit bzw. Herkunft ab, und beide Ideologien erheben auf ihre jeweilige Weise den Anspruch, uns die Welt erklären zu können. (Deshalb verstehen manche Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen – insbesondere außerhalb des deutschsprachigen Raums – Antisemitismus als eine Unterform von Rassismus, als einen unter mehreren, jeweils für sich spezifischen Rassismen.[1]) Andererseits unterscheiden viele spezifische Rassismen und Antisemitismus sich gleichzeitig teilweise sehr in ihren unterschiedlichen Aufladungen und Sinngehalten: So haben beispielsweise Rassismen oft als zentralen Sinngehalt, eine Ungleichbehandlung von Nichtweißen aufgrund ihrer vermeintlichen Minderwertigkeit zu legitimieren, während im Antisemitismus Juden:Jüdinnen als besonders mächtig erscheinen und ihnen umfassende Verantwortung für gesellschaftliche Probleme zugeschrieben wird. Nach 1945 entstandene Formen des Antisemitismus bieten die Möglichkeit, Schuld(gefühle) und Verantwortung für die Shoah abzuwehren, während der Rassismus es ermöglicht, sich vergleichbarer Gefühle hinsichtlich der Verantwortung für die deutsche und europäische Kolonialgeschichte und ihre Kontinuitäten – darunter auch die Überausbeutung in weiten Teilen des sogenannten Globalen Südens, von der wir alle profitieren – zu entledigen. Außerdem sind beide Phänomene teils sehr unterschiedlich gesellschaftlich und kulturell verankert und wirken sich auf struktureller und individueller Ebene anders auf die Betroffenen aus. Deshalb ist insbesondere in Deutschland die Einschätzung weit verbreitet, Antisemitismus sei ein spezifisches Phänomen, das klar von Rassismus abzugrenzen ist und das andere Reaktionsweisen erfordert.
Gleichzeitig sind Antisemitismus und Rassismus teils stark miteinander verflochten: Sie weisen lange historische Verbindungen zueinander auf, beispielsweise im 15. Jahrhundert während der sog. Reconquista, der Rückeroberung der iberischen Halbinsel durch christliche Herrscher*innen nach jahrhundertelanger muslimischer Herrschaft, in deren Zuge sowohl Muslim*innen als auch Jüdinnen:Juden aus der Region vertrieben wurden und ihre Gruppenzugehörigkeit von christlicher Seite erstmals nicht rein religiös, sondern auch – in einem Vorgriff auf biologistische Differenzkonstruktionen – mit Bezug zu Blutreinheit definiert wurde. Zudem treffen spezifische Rassismen und Antisemitismus in bestimmten gesellschaftlichen Feldern in einer Art und Weise zusammen, die sich in ganz spezifischen Interdependenzen und Spannungsfeldern auswirken. Dazu gehört aktuell zum Beispiel die dominanzgesellschaftliche Projektion von Antisemitismus auf die von (insbesondere antimuslimischem,-arabischem bzw. orientalisierendem) Rassismus betroffenen „Anderen“, die als Hauptproblemträger eines „importierten“ Antisemitismus gesehen werden, von dem Repräsentant*innen der weißen, christlich sozialisierten Dominanzgesellschaft behaupten, diese habe ihn aufgrund der erfolgreichen deutschen „Vergangenheitsbewältigung“ angeblich längst überwunden. Diese engen Verwandtschaften und Verflechtungen begründen unseres Erachtens ein besonderes Verhältnis beider Diskriminierungsformen zueinander, das weit über einen primär auf Mehrfachdiskriminierung abzielenden Intersektionalitätsbegriff hinausgeht.
In der Praxis können die unterschiedlichen Sichtweisen auf das Verhältnis von Antisemitismus zu Rassismus bzw. (anderen) Rassismen dazu führen, dass die einen glauben, beides sei quasi das Gleiche, weshalb sie die Unterschiede nicht sehen (wollen), während die anderen allein die Unterschiede betonen und deshalb die Gemeinsamkeiten nicht sehen (wollen). Stellenweise resultieren daraus in politischen Diskursen sowie pädagogisch-zivilgesellschaftlichen Ansätzen – auch unbeabsichtigte – Vereindeutigungen, die einerseits der komplexen Realitäten sowohl von Antisemitismus als auch von Rassismen nicht gerecht werden und anderseits das jeweils andere Phänomen bagatellisieren und so die oben angesprochenen Entweder-Oder-Logiken befördern. Dies befördert wiederum Anerkennungs- und Gerechtigkeitskonkurrenzen, was Forderungen nach gesellschaftlicher, politischer und medialer Repräsentanz anbelangt oder auch ganz konkret die finanzielle Förderung von Engagement gegen Rassismus bzw. Antisemitismus betrifft. Stellenweise erwecken Akteur:innen, die sich gegen eines der beiden Verhältnisse einsetzen, den Eindruck, ihr Anliegen im Zweifel auch umstandslos auf Kosten der vom anderen Diskriminierungsverhältnis betroffenen Menschen zu verfolgen. Hierdurch wird in unserer Erfahrung nicht nur die Glaubwürdigkeit dieser spezifischen Akteur:innen untergraben, sondern die diskriminierungskritische und demokratieorientierte Landschaft insgesamt beschädigt.
Das besondere Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus sowie ihre besonderen Verflechtungen zeigen sich zurzeit besonders deutlich in Bezug auf den Israel-Palästina-Konflikt – einem Themenfeld, das ein besonderes Risiko für vereindeutigende, eindimensionale Ansätze in sich birgt, die nur das eine oder nur das andere sehen wollen und die Relevanz des jeweils anderen bestreiten. Verflochten sind hier beide Phänomene zum einen hinsichtlich des Konflikts vor Ort, dessen Entstehung in der Zeit der Mandatsverwaltung Palästinas sowohl im Kontext des europäischen (rassistischen) Kolonialismus als auch des europäischen Antisemitismus erfolgte, zum anderen bezogen auf die hiesigen Debatten über den Konflikt (dem „Konflikt über den Konflikt“), in denen – verstärkt seit dem 7. Oktober –Israel/Palästina nicht selten als Projektionsfläche für sowohl antisemitische als auch rassistische Denkmuster (und davon abgeleitete Praxen) genutzt wird. So führt das Zusammentreffen der beiden großen Weltereignisse Kolonialismus und Shoah in diesem Konflikt auch zu teils ganz unterschiedlichen Interpretationen und Schlussfolgerungen von einerseits der Rassismus- und andererseits der Antisemitismuskritik, für die entweder der Kolonialismus oder aber die Shoah die zentralen geschichtlichen Referenzpunkte darstellen. Aus diesen resultieren wiederum wechselseitige Antisemitismus- bzw. Rassismusvorwürfe, die immer wieder auch für das jeweils eigene Anliegen instrumentalisiert werden.[2] Insofern haben der 7. Oktober und seine Folgen sehr dazu beigetragen, eindimensionale Entweder-Oder-Logiken hierzulande noch weiter zu befördern.
Vor diesem Hintergrund haben wir uns mit unserem Projekt für pädagogische und zivilgesellschaftliche Ansätze starkgemacht, die Rassismus- und Antisemitismuskritik gleichermaßen ernst nehmen und beide miteinander verbinden. Dies sehen wir nicht als Ersatz für phänomenfokussierte Ansätze, die entweder Antisemitismus oder Rassismus bzw. einzelne Rassismen in den Mittelpunkt stellen und die wir weiterhin unbedingt für notwendig halten. Wir wollen damit vielmehr einen Beitrag zur Weiterentwicklung sowohl von monothematischen als auch von multiperspektivischen Ansätzen leisten, indem wir:
∼ verbindende Dialogräume für sowohl phänomenfokussiert als auch multiperspektivisch arbeitende Akteur*innen unter besonderer Berücksichtigung eröffnen, die besonders Betroffenenperspektiven berücksichtigen;
∼ zur Reflexion und Veränderung von (expliziten und impliziten) Herangehensweisen und Themenbereichen beitragen, die Polarisierung und Entweder-Oder-Logiken nahelegen bzw. befördern;
∼ nicht-polarisierender Ansätze und Konzepte für die phänomenfokussierte sowie multiperspektivische Arbeit weiterentwickeln und verbreiten;
∼ Ansätze und Konzepte entwickeln und befördern, die nicht-polarisierende Zugänge und Befassungen gerade auch mit den „schwierigen Themen“ ermöglichen.
Konzipiert und umgesetzt wurde das Projekt von einem Team aus überwiegend selbst von Rassismus und/oder Antisemitismus betroffenen Expert*innen, um dadurch nicht nur eine multiperspektivische Auseinandersetzung mit dem Themenfeld zu gewährleisten, sondern gleichzeitig auch nach außen hin dominanzgesellschaftlichen Spaltungsversuchen entgegenzuwirken.
Die wichtigste Säule des Projekts stellten Fortbildungen für (sozial-)pädagogische Fachkräfte sowie weitere Multiplikator*innen unter anderem aus dem zivilgesellschaftlichen Engagement zur konstruktiven Auseinandersetzung mit den Spannungsfeldern von Antisemitismus und Rassismus bzw. von Antisemitismus- und Rassismuskritik dar. Hierfür haben wir verschiedene, in der Regel zweitägige Konzepte mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen für Präsenz- sowie für Online-Veranstaltungen entwickelt und in Kooperationen mit Partner*innen aus unterschiedlichen Bundesländern umgesetzt, darunter die Landeszentralen für politische Bildung in Baden-Württemberg und Berlin, die Rosa-Luxemburg-Stiftung, das Bildungswerk Berlin der Heinrich-Böll-Stiftung, das baden-württembergische Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL), die Fachschule für Sozialpädagogik (FSP2) in Hamburg-Altona sowie das Kölner Kaiserin-Auguste-Gymnasium. Neben einem Konzept für die allgemeine Auseinandersetzung mit Rassismus, Antisemitismus und ihren Spannungsfeldern haben wir weitere themenspezifische Qualifizierungskonzepte erarbeitet: einerseits zur vertiefenden multiperspektivischen Befassung mit Erinnerungskulturen sowie andererseits – nach dem 7. Oktober unter besonderen Voraussetzungen und besonders stark nachgefragt – zum Sprechen über den Israel-Palästina-Konflikt. Unser pädagogischer Ansatz zielte jeweils darauf ab, durch Lernprozesse auf den Ebenen Wissen, Haltung und Methodik/Didaktik die Handlungsfähigkeit unserer Teilnehmenden zu stärken, Antisemitismus und Rassismen in (sozial-)pädagogischen und zivilgesellschaftlichen Settings gleichzeitig entgegenzuwirken.
Aufgrund der Polarisierungen, die in unseren Themenfeldern schon seit mehreren Jahren bestehen und sich nach dem 7. Oktober intensivierten, haben wir uns im Projekt von Anfang an systematisch damit beschäftigt, auf welche Weise wir unsere Angebote gestalten müssen, damit für die Teilnehmenden trotz des hohen Konfliktpotenzials und vieler damit einhergehender Unsicherheiten und Befürchtungen ein möglichst konstruktives Lernen und ein dialogisches Auseinandersetzen möglich wird. Aus dieser Beschäftigung ist ab 2023 eine Zusammenarbeit mit Katharina Debus sowie in 2024 auch mit dem Projekt Schnittstelle Geschlecht - Geschlechterreflektierte Bildung als Prävention von Sexismus, Vielfaltsfeindlichkeit und Rechtsextremismus des Berliner Trägers Dissens – Institut für Bildung und Forschung e.V. entstanden, in deren Kontext wir systematische Reflexionen zur Begleitung von Lernprozessen zu Diskriminierung und polarisierten Themen verknüpft haben mit Einsichten und Erfahrungen aus Prozessbegleitung und Konfliktmoderation. Die gemeinsamen Erarbeitungen sind in die Gestaltung unserer Fortbildungen und der von uns (mit) ausgerichteten Fachaustausche (siehe unten) eingeflossen, und die vielen sehr positiven Rückmeldungen von Teilnehmenden haben uns bewogen, wesentliche unserer Herangehensweisen auch für ein (sozial‑)pädagogisch und prozessbegleitend tätiges Fachpublikum zur Verfügung zu stellen. Daraus sind drei Fachtexte entstanden: Im ersten werden Chancen und Begrenzungen dabei ausgelotet, wenn diskriminierungskritische Lern- und Veränderungsräume eher als Safer Spaces im Sinne größtmöglicher Sicherheit vor (Diskriminierungs-)Verletzungen gestaltet werden oder eher als Braver Spaces im Sinne mutiger Auseinandersetzungsräume mit (unter anderem) Diskriminierungsrisiken.[3] Im zweiten Fachtext werden Überlegungen vorgestellt, wie wir als Anleitende Ankommenssituationen in Bildungs- und Begleitungsangeboten gegen Diskriminierung sowie zu polarisierten Themen so gestalten können, dass Teilnehmende sich möglichst gut auf Lern- und Veränderungsprozesse einlassen.[4] Im dritten Text stellen wir Wünsche bzw. Einladungen an Teilnehmende vor, die viel dazu beitragen können, auch bei herausfordernden Themen und konfliktiven Positionen zu konstruktiven und dialogischen gemeinsamen Auseinandersetzungen zu kommen.[5]
Bedingt durch den 7. Oktober und den anschließenden Krieg in Gaza (und im Libanon) rückte die Beschäftigung mit dem Spannungsfeld Israel/Palästina ab Herbst 2023 ins Zentrum des Projekts. Zwar war unsere erste, schon länger geplante Fortbildung Anfang November 2023 zu diesem Thema im Vorfeld noch von großer Sorge darum geprägt, ob in der aufgeheizten und polarisierten Atmosphäre unser Konzept aufgehen würde, einen vertrauensvollen Raume für einen konstruktiven, kritisch-solidarischen Austausch zwischen Personen zu schaffen (und zu halten), die sich mehr oder weniger klar entweder der Antisemitismuskritik oder aber der Rassismuskritik zugehörig fühlen und daraus entsprechende, teils stark divergierende Positionen zum Konflikt ableiten. Diese Sorge erwies sich jedoch als unbegründet, denn unsere Konzepte zur Lernraumgestaltung haben – auch durch die Bereitschaft der Teilnehmenden, sich trotz eigener Befürchtungen auf diesen Raum einzulassen – sehr gut funktioniert. Genauso wie auch bei unseren früheren und späteren Fortbildungen gab es sehr viel positives Feedback von den Teilnehmenden, und alle – auch wir selbst – waren sehr erleichtert darüber, dass es auch in der aktuellen, hoch emotionalisierten Situation möglich war, trotz unterschiedlicher Positionen in einen produktiven und verbindenden Dialog miteinander zu kommen.
In der Folge bekamen wir, auch aufgrund von Empfehlungen durch Teilnehmende, bald sehr viel mehr Anfragen nach Fortbildungen, Beratungen und Prozessbegleitungen aus unterschiedlichen Feldern und Institutionen aus dem gesamten Bundesgebiet, als wir im Rahmen des Projekts hätten umsetzen können. Soweit möglich, wurden deshalb vom Projektteam sowie von anderen BildungsBausteine-Mitarbeitenden diverse zusätzliche, von den anfragenden Einrichtungen finanzierte Maßnahmen außerhalb des Projekts durchgeführt. Um der hohen Nachfrage nach niedrigschwelligeren Angeboten bedarfsgerecht nachzukommen, wurden im Rahmen des Projektes auch Konzepte für kürzere Formate mit einem Umfang von mehreren Stunden bis anderthalb Tagen entwickelt. So konnten die im Projekt entwickelten Ansätze, Konzepte und Methoden nicht nur innerhalb des Trägers, sondern auch darüber hinaus in der Fachwelt bis in Regelstrukturen hinein erfolgreich disseminiert werden. Zudem sind aus diesen Aktivitäten mehrere neue Kooperationen mit Partner*innen in unterschiedlichen Bundesländern entstanden, die auch über das Projektende hinaus fortgeführt werden sollen.
Eine weitere Projektsäule stellten Fachaustausche mit anderen Expert*innen der antisemitismus- und/oder rassismuskritischen (Bildungs-)Arbeit dar, die als Dialogräume im Sinne von Braver Spaces („mutigere Räume“) konzipiert waren, in denen in einem möglichst vertrauensvollen Rahmen bewusst konfliktive Aspekte des Themenfelds bearbeitet wurden.[6] In zwei Fachaustauschen kamen im ersten und zweiten Projektjahr ausschließlich rassismus- und/oder antisemitismuserfahrene Kolleg*innen zusammen und tauschten sich über ihre spezifischen Erfahrungen sowie die mit der Arbeit einhergehenden Belastungen insbesondere nach dem 7. Oktober aus. Außerdem organisierten wir gemeinsam mit der ju:an-Praxisstelle für antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit der Amadeu Antonio Stiftung im ersten Projektjahr eine Reihe von aufeinander aufbauenden Fachaustauschen mit Partner*innen, die direkt oder indirekt zum Israel-Palästina-Konflikt arbeiten und sich beispielsweise gegenseitig Methoden zum Thema vorstellten – ein Prozess, der streckenweise durchaus schwierig war, unter anderem weil keine Einigkeit darüber erzielt werden konnte, welche der teils sehr gegensätzlichen inhaltlichen Positionen für alle Partner*innen im Bereich des Diskutierbaren liegen.
Die dritte Säule des Projekts bestand aus der Erarbeitung unterschiedlicher (Online-)Produkte: An erster Stelle ist hier die überarbeitete und erweiterte Neuauflage unserer Methodenhandreichung „Verknüpfungen – Ansätze für die antisemitismus- und rassismuskritische Bildung“ aus einem früheren Bundesmodellprojekt zu nennen, die sowohl online als auch als Printversion veröffentlicht und an zahlreiche Partner*innen, Veranstaltungsteilnehmende und weitere Interessierte verteilt wurde. Begründet wurde außerdem eine neue Reihe von Webtalks und Podcasts, in der zunächst das Projekt vorgestellt und dann in mehreren, meist zweiteiligen Expert*innengesprächen unterschiedliche Aspekte des Themenfelds diskutiert wurden: Mit Prof. Dr. Karim Fereidooni sprachen wir über Rassismus und Antisemitismus im Kontext Schule, mit Dr. Floris Biskamp über das Verhältnis von Antisemitismus- und Rassismuskritik, mit Dr. Urs Lindner über Biskamp über das Verhältnis von Antisemitismus- und Rassismuskritik, mit Dr. Urs Lindner über Antisemitismus, Rassismen und die Singularität der Shoah und mit Julia Yael Alfandari über Bildungs- und Bündnisarbeit nach dem 7. Oktober aus progressiver jüdischer Perspektive. Bereits angesprochen wurden die drei Fachtexte von Katharina Debus und Iven Saadi; zudem haben wir Urs Lindner nach unserem gemeinsamen Webtalk/Podcast darum gebeten, die in den beiden Teilen besprochenen Debatten über einerseits das Verhältnis von Antisemitismus zu (anderen) Rassismen und andererseits das Verhältnis der Shoah zu anderen (insbesondere kolonialen) Menschheitsverbrechen noch einmal in zwei kurzen Fachtexten darzustellen[7]. Außerdem wurden neben einer Multiplikator*innen-Version der Methode „ALARM! ALERT!“ aus der „Verknüpfungen“-Handreichung zwei weitere Methodenbeschreibungen online veröffentlicht, einerseits eine Weiterentwicklung der Methode „Emotionskochtopf“, die die BildungsBausteine schon seit zwanzig Jahren erfolgreich in der Arbeit zum Thema Israel/Palästina einsetzen, sowie eine in verschiedenen thematischen Kontexten einsetzbare Aufstellungsübung für einen biografischen Einstieg ins Thema.[8]
Den öffentlichkeitswirksamen Projektabschluss bildete eine dreistündige Online-Veranstaltung mit dem Titel „Der 7. Oktober und seine Folgen – Erfahrungen und Methoden aus der antisemitismus- und rassismuskritischen Bildung“ am 2. Dezember 2024, die gemeinsam mit dem BildungsBausteine-Projekt „Bewegte Vielfalt in Berlin“ organisiert wurde und die selbst inmitten des üblichen Veranstaltungsmarathon zum Jahresende hin auf sehr großes Interesse stieß. Dies bestätigt unsere im Projektverlauf gewonnene Einschätzung, dass es nach wie vor einen großen Bedarf an Ansätzen gibt, die antisemitismus- und rassismuskritisches Engagement miteinander verbinden. Gemeinsam mit drei weiteren Praktiker*innen aus anderen Trägern, Projekten und Initiativen stellten beide Projekte in Impulsvorträgen sowie kurzen Workshops den ca. 80 Teilnehmenden unterschiedliche Ansätze im Umgang mit Rassismus und Antisemitismus im Kontext Israel/Palästina vor, reflektierten die damit gesammelten Erfahrungen und wagten einen Ausblick auf die Weiterarbeit im nächsten Jahr.
Der Ansatz, Rassismus- und Antisemitismuskritik in Bildung und zivilgesellschaftlichem Engagement gleichberechtigt miteinander zu verknüpfen, bringt verschiedene Herausforderungen mit sich. Um sich diesen erfolgreich zu stellen, braucht es unserer Erfahrung nach nicht nur fundierte und differenzierte Kenntnisse zu beiden Verhältnissen und im Zweifelsfall bedeutend mehr Zeit, als wenn wir phänomenspezifisch arbeiten, sondern vor allem auch eine pädagogische (und politische) Haltung, die verschiedene Betroffenenperspektiven ernst nimmt und zentral setzt, ohne dabei aber Betroffene zu instrumentalisieren, zu homogenisieren oder sie gegeneinander auszuspielen: Weder sollten Perspektiven von Betroffenen dafür funktionalisiert werden, die eigenen (nichtjüdisch-weißen) Positionen zu legitimieren, noch sollte die Vielfalt jüdischer Stimmen oder der aus rassifizierten Communitys ignoriert werden, indem eine vermeintlich mehrheitlich vertretene Perspektive als „DIE“ jüdische oder „DIE“ muslimische, arabische, Schwarze etc. absolut gesetzt wird, noch sollten Betroffenenperspektiven in Konkurrenz zueinander gesetzt und hierarchisiert werden – egal, ob sie von Menschen geäußert werden, die von der gleichen oder von unterschiedlichen Diskriminierungsformen betroffen sind.
Akteur*innen, die sich (stärker) mit dem einen oder dem anderen Feld identifizieren, sollten beidseitig bereit dazu sein, die eigenen Wissensbestände, Positionen, Haltungen und (pädagogischen) Praxen selbstkritisch zu reflektieren und dabei ggf. auch bisherige „Gewissheiten“ über Bord zu werfen. In unserem Falle hat dies unter anderem bedeutet, die bisher im Träger genutzten Definitionen von israelbezogenem Antisemitismus auch aus rassismuskritischer Perspektive zu hinterfragen. Angeregt durch Kolleg*innen eines anderen Bildungsträgers und in Kooperation mit dem landesgeförderten BildungsBausteine-Projekt „Bewegte Vielfalt in Berlin“, haben wir zudem eine ältere pädagogische Methode von uns zu israelbezogenem Antisemitismus und Rassismus dahingehend weiterentwickelt, dass rassistische Deutungen des Israel-Palästina-Konflikts darin die gleiche Aufmerksamkeit erhalten wie antisemitische[1]. Unsere Erfahrung im Einsatz der Methode sowie die von Kolleg*innen, die mit Jugendlichen zum Thema arbeiten, ist, dass eine solche Gleichgewichtung – verbunden mit einer entsprechenden pädagogischen Haltung – unter anderem bewirkt, dass von Rassismen betroffene Teilnehmende sich leichter mit Antisemitismus auseinandersetzen können, wenn ihnen glaubwürdig vermittelt wird, dass wir ihre Erfahrungen genauso ernst nehmen wie die Antisemitismuserfahrungen von Jüdinnen:Juden.
Die gegenwärtigen Debatten über den Israel-Palästina-Konflikt fokussieren sich stark auf die Auseinandersetzung um Begrifflichkeiten (beispielsweise „Apartheid“ oder „Genozid“). Mindestens in pädagogischen Räumen halten wir es jedoch für wichtig, nicht reflexhaft mit Abwehr oder gar Ausschluss auf den einen oder anderen Begriff zu reagieren. Auch wenn wir bestimmte Begriffe schon allein wegen ihrer Aufgeladenheit nicht verwenden würden, halten wir Herangehensweisen für unangemessen vereindeutigend und unterkomplex, die solche Begriffe per se als antisemitisch (und andere als rassistisch) definieren oder jeder Person, die diese Begriffe verwendet, eine antisemitische oder rassistische Intention unterstellen. Stattdessen sollten wir uns immer ernsthaft dafür interessieren, welche Intentionen im konkreten Fall damit verfolgt werden und was Lernende oder andere Adressat*innen genau mit ihnen ausdrücken wollen. Daran anschließend kann dann zum Beispiel pädagogisch erarbeitet werden, was diese Begriffe bei Anderen auslösen könnten und ob es diese Begriffe wirklich braucht, um eigene Positionen und Gerechtigkeitsanliegen zu begründen. Ein solches Vorgehen orientiert sich unter anderem am Beutelsbacher Konsens für die politische Bildung, der auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit Autoritarismus und Indoktrination im Nationalsozialismus eben auch ein Kontroversitätsgebot und ein Überwältigungsverbot enthält. Wie nehmen mit Besorgnis wahr, dass solche Grundsätze in der Theorie zwar von vielen Akteuren der politischen Bildung geteilt werden, unserer Erfahrung nach gerade beim Thema Israel/Palästina in der Praxis aber nicht immer berücksichtigt werden.
Unabhängig davon, wie das Verhältnis von Antisemitismus und (anderen) Rassismen beschrieben wird und ob wir eher phänomenspezifisch oder -übergreifend arbeiten: Eine Hierarchisierung beider Themen ist grundsätzlich problematisch und beschädigt unserer Erfahrung nach die Glaubwürdigkeit demokratieorientierter sowie ungleichheits- und diskriminierungskritischer Anliegen. Für verknüpfende Ansätze ist dann auch die Bereitschaft zentral, ohne Konkurrenzlogiken die Besonderheiten der jeweiligen Phänomene zu ergründen, zu verstehen und anzuerkennen – und gleichzeitig die Gemeinsamkeiten und Verflechtungen nicht aus den Augen zu verlieren. Zudem braucht es sowohl in der antisemitismuskritischen als auch der rassismuskritischen (Bildungs-) Landschaft mehr Aufmerksamkeit dafür und Selbstreflexion darüber, wie bisherige Analyse-, Deutungs- und Handlungsgewohnheiten – gegebenenfalls ungewollt – dazu beitragen, Entweder-Oder- und Ausspiellogiken zu bestärken. Dafür benötigen wir viel Ambiguitätstoleranz sowie eine Anerkennung und ein Aushalten der Tatsache, dass es angesichts der komplexen Wirkverhältnisse beider Phänomene keine einfachen Antworten und Lösungen geben kann.
Zudem halten wir – sowohl mit Blick auf die Arbeit mit Lernenden, als auch bezüglich der Selbstreflexion, zu der wir im vorhergehenden Abschnitt eingeladen haben– eine Beschäftigung mit Emotionen, die mit der Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Rassismus sowie ihren Spannungsfeldern einhergehen, für ebenfalls sehr relevant. Insbesondere polarisierende und dichotomisierende emotionale Haltungen, wie sie gerade im Hinblick auf den Israel-Palästina-Konflikt häufig anzutreffen sind, lassen sich nicht allein kognitiv begegnen. Eine Dethematisierung oder gar Tabuisierung lässt sie nicht aus Lern- und Auseinandersetzungsräumen verschwinden, sondern trägt oft allenfalls dazu bei, dass sie im Hintergrund lernverhindernd wirken. Zudem geht der Ausschluss von Emotionen oft gerade auf Kosten von biografisch mit dem Konflikt verbundenen bzw. von durch Rassismus und/oder Antisemitismus diskriminierten Menschen. Gleichzeitig halten wir es gesellschaftlich für relevant, dass eine Nichtbefassung mit Emotionen in der politischen Bildung polarisierenden politischen Akteur*innen das Feld überlässt. Auch wenn viele Fachkräfte darin nur wenig Übung haben, halten wir es für potenziell sehr lohnenswert und auch erforderlich, Emotionen in pädagogischen Settings ernst zu nehmen, sie aufzugreifen und konstruktiv an ihnen anzusetzen, um sie als Lerngelegenheit zu nutzen.
Eine besondere Herausforderung für das Projektteam war gerade nach dem 7. Oktober die besonderen emotionalen Belastungen, die mit der (mehrheitlich) eigenen Betroffenheit von Antisemitismus- und/oder Rassismus einhergehen und die eine Abgrenzung von den vermehrt um sich greifenden Polarisierungen, Verwerfungen und Spaltungen erschwer(t)en. Mit diesen Belastungen umzugehen, war (und ist) nicht immer leicht, ebenso der Umgang mit einem zunehmend autoritär gewendeten Antiantisemitismus, der bspw. entgegen dem Kontroversitätsgebot des Beutelsbacher Konsens versucht, Förderprojekte auf die Anwendung vorgegebener Antisemitismusdefinitionen zu verpflichten, sowie mit einem Loyalitätsdruck aus unterschiedlichen Communitys, die versuchen, bestimmte Positionen als „DIE jüdische“ oder „DIE von Rassismus betroffene“ durchzusetzen. Und auch uns fällt es nicht immer leicht, die Gleichzeitigkeiten der beiden Perspektiven auszuhalten, für die wir uns im Projekt einsetzen – insofern begreifen natürlich auch wir uns als Teil eines gemeinsamen und andauernden Lernprozesses.
Aktuell planen wir ein Folgeprojekt im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“, in dem wir uns, aufbauend auf den jetzigen Projekterfahrungen, von 2025 bis 2028 systematisch mit den Intersektionen und Interdependenzen von Rassismus und Antisemitismus auseinandersetzen und entsprechende pädagogische Konzepte entwickeln, umsetzen und disseminieren werden. Ein Schwerpunkt wird neben Fortbildungen sowie Expert*innen- und Fachaustauschen auf der Konzeption und Erprobung von mehrmoduligen Weiterbildungen für (sozial-)pädagogische Fachkräfte und andere Multiplikator*innen in unterschiedlichen Bundesländern liegen, die grundständige inhaltliche und pädagogische Kenntnisse zur verknüpften Bearbeitung von Antisemitismus und Rassismus vermitteln. Wir wollen die teilnehmenden Fachkräfte und Multiplikator*innen dazu qualifizieren, in ihren jeweiligen Handlungsfeldern kompetent gegen beide Phänomene auch in ihren Interdependenzen zu wirken und sich dabei gleichzeitig effektiv gegen Konkurrenz- und Ausspiellogiken zwischen Rassismus und Antisemitismus einzusetzen. Zudem wollen wir zu regionaler und bundesweiter Vernetzung entsprechend engagierter und kompetenter Fachkräfte und Multiplikator*innen beitragen und damit auch über die Projektlaufzeit hinaus unterstützend wirken.
Denn im Vordergrund unseres Engagements gegen Antisemitismus und Rassismus sollte nicht zuletzt die Erkenntnis stehen, dass unsere Gesellschaft gegenwärtig mit vielfältigen demokratiefeindlichen Bedrohungen konfrontiert ist. Um diesen erfolgreich entgegenzutreten, dürfen Rassismus- und Antisemitismuskritik nicht dabei stehen bleiben, sich über Trennendes zu streiten, sondern sollten sich auf das Verbindende konzentrieren und sich den aktuellen Herausforderungen gemeinsam stellen. Und dazu möchten wir auch mit dem neuen Projektvorhaben weiter beitragen.
[1] Vgl. dazu auch Teil 1 unseres Webtalks/Podcasts mit Dr. Urs Lindner.
[2] Vgl. hierzu auch unsere Webtalk-/Podcast-Folgen mit Dr. Floris Biskamp.
[6] Vgl. Debus/Saadi (2023); siehe Fußnote 3.
[7] Vgl. Lindner, Urs (2024). Ist Antisemitismus (kein) Rassismus? sowie Ders. (2024) Was heißt Singularität der Shoah?; ebenfalls veröffentlicht unter https://www.bildungsbausteine.org/projekte/zusammen-denken-zusammen-handeln/fachtexte.
[8] Die Methoden sind hier online zu finden.
[9] Vgl. die Methode „ALARM! ALERT!“ aus unserer im Projekt neu veröffentlichten Methodenhandreichung „Verknüpfungen“.