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ZDZH-Talk #4:

Antisemitismus, Rassismen und die Singularität der Shoah

mit Dr. Urs Lindner

Teil 2: Debatten über die Einzigartigkeit der Shoah

Im Rahmen des BildungsBausteine-Projekts „Zusammen_denken, zusammen handeln – Spannungsfelder der antisemitismus- und rassismuskritischen Bildung konstruktiv bearbeiten“ sprachen die Projektleiter*innen Iven Saadi und Susanna Harms am 19. September 2024 mit Dr. Urs Lindner sowohl über das Verhältnis von Antisemitismus zu Rassismus bzw. (anderen) Rassismen als auch über die Singularität der Shoah im Vergleich zu anderen – unter anderem kolonialen – Genoziden.

Dr. Urs Lindner ist habilitierter Philosoph mit Schwerpunkt auf politischer Philosophie und derzeit Fellow am Centre for Global Cooperation Research der Universität Duisburg-Essen mit einem Projekt zu Erinnerungsmaterialismus. Außerdem hat er sich in den letzten Jahren intensiv in den zivilgesellschaftlichen Initiativen „Decolonize Erfurt“ und „Decolonize Wuppertal“ engagiert.

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Das Gespräch ist auch als Webtalk verfügbar.

Zu Teil 1: Antisemitismus – eigenständiges Phänomen oder Unterform von Rassismus?

In der Folge angesprochene Namen, Texte und Begriffe:

(in der Reihenfolge der Erwähnung)

S(c)hoah: hebräischer Begriff für den nationalsozialistischen Massenmord an den europäischen Juden_Jüdinnen (deutsch: Katastrophe); Synonym für „Holocaust“

„Historiker*innenstreit 2.0“: jüngere wissenschaftliche, politische und mediale Auseinandersetzung um die zukünftige Ausrichtung der deutschen Erinnerungskultur, insbesondere in Bezug auf das Verhältnis von Shoah und Kolonialismus

Singularität; singulär: Einzigartigkeit, einzigartig

Achille Mbembe: kamerunischer Historiker, Politikwissenschaftler und Philosoph; wichtiger Vertreter der postkolonialen Theorie (s. u.)

Ruhrtriennale 2020: jährlich stattfindendes, internationales Kunstfestival im Ruhrgebiet, dessen Eröffnungsrede im Jahr 2020 Achille Mbembe halten sollte; seine Einladung löste eine große Kontroverse aus, nachdem ihm unter anderem der Antisemitismusbeauftragte des Bundes israelbezogenen Antisemitismus sowie eine Relativierung des Holocausts vorgeworfen hatte

Postkolonialismus: Wissenschaft und politische Bewegung, die die Nachwirkungen kolonialer Herrschaft auf unterschiedlichen Ebenen untersucht bzw. sich gegen koloniale Kontinuitäten engagiert

Michel Rothberg: US-amerikanischer Literaturwissenschaftler und Holocaust-Forscher, dessen 2021 auf Deutsch erschienenes Buch „Multidirektionale Erinnerung“ (als Bestandteil des „Historiker*innenstreits 2.0“) kontrovers diskutiert wurde; er plädiert darin dafür, die Erinnerung an die Opfer unterschiedlicher Massenverbrechen – insbesondere von einerseits Shoah und andererseits Kolonialismus und Sklaverei – nicht in Konkurrenz zueinander zu sehen

Jürgen Zimmerer: deutscher Historiker und Afrikawissenschaftler, Professor an der Universität Hamburg und seit 2014 Leiter ihrer Forschungsstelle Hamburgs koloniales Erbe; ebenfalls einer* der Protagonist*innen des „Historiker*innenstreits 2.0“

A. Dirk Moses: australischer Historiker, dessen Artikel „Der Katechismus der Deutschen“ von 2021, in dem er die hegemoniale deutsche Erinnerungskultur angreift, von manchen Autor*innen als eigentlicher Auslöser des „Historiker*innenstreits 2.0“ angesehen wird

Hannah Arendt (1950): Die vollendete Sinnlosigkeit, in: Hannah Arendt: Israel, Palästina und der Antisemitismus, Berlin 1991, Seite 77-94.

Individualkategorie: von Urs Lindner verwendeter Begriff für jenes Singularitätsverständnis, das von einer grundlegenden Andersheit der Shoah im Vergleich zu den übrigen Massenverbrechen der Menschheitsgeschichte ausgeht

Saul Friedländer / Norbert Frei / Sybille Steinbacher / Dan Diner: Ein Verbrechen ohne Namen. Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust, München 2022

Saul Friedländer: Holocaustgedenken: Ein fundamentales Verbrechen; in: DIE ZEIT Nr. 28/2021 (Bezahl-Artikel)

sui generis: lateinisch für „von eigener Gattung/von eigenem Geschlecht“

Dan Diner: Geschichte des Antisemitismus: Er ist wieder da, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 16.01.2024 (Bezahl-Artikel)

Avishai Margalit / Gabriel Motzkin: Die Einzigartigkeit des Holocaust, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie Jahrgang 45, Heft 1 (1997), Seite 3-17

Erlösungsantisemitismus: vom israelischen Historiker Saul Friedländer geprägter Begriff für den nationalsozialistisch-rassistischen, auf Vernichtung aller Juden:Jüdinnen zielenden Antisemitismus mit quasi-religiösem Charakter

Erster Historikerstreit von 1986: wissenschaftliche Kontroverse um die Einzigartigkeit der Shoah und ihre Bedeutung für das deutsche Selbstverständnis, ausgelöst durch die Behauptung des Historikers Ernst Nolte, der nationalsozialistische Massenmord an den europäischen Juden:Jüdinnen sei eine Reaktion auf die Verbrechen Stalins gewesen; kritisiert an erster Stelle durch den Philosophen Jürgen Habermas, der diese Relativierung der Shoah vehement zurückwies und dessen Beharren auf der alleinigen Verantwortung der Deutschen für diesen Genozid zur Grundlage der deutschen Erinnerungskultur wurde

Micha Brumlik: deutscher Erziehungswissenschaftler und Publizist, ehemaliger Professor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main

Gavriel D. Rosenfeld: Blind Spots in the German ‚Catechism Debate‘, Journal of Holocaust Research, 5.8.2021

kategorial: Kategorien betreffend, nach Kategorien

Charlotte Wiedemann: Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis. Ein Plädoyer für eine empathische Erinnerungskultur, Berlin 2022

anti-revisionistisch: gegen die (rechtsextreme) Relativierung, gegen ein Herunterspielen der Bedeutung der Shoah gerichtet

Historisierung: (in diesem Kontext:) Abschließen mit dem Holocaust, einen Schlussstrich unter die NS-Geschichte ziehen

Porajmos: Begriff aus dem Romanes (von Roma* und Sinti* gesprochene Sprache) für den nationalsozialistischen Massenmord an den europäischen Sinti* und Roma*

Antiziganismus: besondere Form von Rassismus, die sich gegen Sinti* und Roma* richtet; andere Begriffe sind Rassismus gegen Sinti* und Roma*, Antiromaismus/Antisintiismus, Gadje-Rassismus (Gadje = „Nichtroma*/-sinti*“ auf Romanes)

Sinti*zze und Rom*nja: (anders) gegenderte Form von Sinti* und Roma*

Jens Christian Wagner (Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora): Historikerstreit 2.0? Zur Debatte um das Wechselverhältnis zwischen Shoah- und Kolonialismus-Erinnerung

(Aktion) T4: nach 1945 etablierter Begriff für den nationalsozialistischen Massenmord an Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen, der von der NS-Zentraldienststelle T4 in der Berliner Tiergartenstraße 4 geleitet wurde (von den Nationalsozialist*innen „Euthanasie“ genannt)

Braver Spaces: englisch für „mutigere Räume“; im Unterschied zu Safer Spaces („sicherere Räume“) sollen Braver Spaces Menschen dazu ermutigen, sich mutig auch mit schwierigen Themen zu beschäftigen – siehe dazu den Fachtext „Verletzlichkeit und Lernen zu Diskriminierung: Anregungen und Gedanken zu Safer und Braver Spaces in der Bildungsarbeit“ von Katharina Debus & Iven Saadi aus unserem Projekt (Berlin 2023)

Jingle: Unity/Kevin MacLeod (incompetech.com); lizensiert unter Creative Commons By Attribution 3.0

Die Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung des BMFSFJ bzw. des BAFzA oder der Berliner Senatsverwaltung dar. Für inhaltliche Aussagen tragen die BildungsBausteine e. V. die Verantwortung, auch wenn die Äußerungen der Sprechenden deshalb nicht automatisch vom Verein geteilt werden.