Über 30 Jahre nach Mauerfall und Einheit hat der Ost-West-Gegensatz in Deutschland an Bedeutung verloren. Im Hinblick auf den sozioökonomischen Status der Bevölkerung scheinen heute andere Faktoren wie Stadt/Land zunehmend eine größere Rolle zu spielen. Dennoch wirken die geteilte Vergangenheit und die ostdeutschen Transformationserfahrungen bis in die Gegenwart fort – auch dann, wenn es um jüdisches und (p)ostmigrantisches Leben und um Antisemitismus und Rassismus geht. Sie schlagen sich zum Beispiel in der Zusammensetzung der ostdeutschen Einwohner*innenschaft nieder, die abseits größerer Städte nach wie vor homogener und weißer ist als im Westen, in ostdeutschen Identitätskonzeptionen, die von Deklassierungserfahrungen und -gefühlen geprägt sind, oder in politischen Einstellungen und Aktivitäten, die in Ostdeutschland stärker von Antisemitismus und Rassismus, von Verschwörungsglauben und von Demokratiefeindlichkeit beeinflusst sind.
Die Situation im ehemals geteilten Berlin ist jedoch nur bedingt mit der in den ostdeutschen Bundesländern vergleichbar. Deshalb stellt sich die Frage, inwieweit sich diese gesamtdeutschen Verhältnisse auf die Hauptstadt mit ihrer besonderen Lage übertragen lassen. Welche Rolle spielen Ost-West-Unterschiede heute noch in der zusammengewachsenen Stadt? Gelten mögliche Unterschiede für Jugendliche noch genauso wie für die älteren Generationen? Und was folgt daraus gegebenenfalls für die antisemitismus- und rassismuskritische (Jugend-)Bildungsarbeit?
Im Projekt „Bewegte Vielfalt in Berlin“ hat sich der Verein BildungsBausteine seit 2020 mit diesen Fragen beschäftigt, hierzu pädagogische Konzepte, Methoden und Materialien (weiter-)entwickelt und in unterschiedlichen Veranstaltungsformaten erprobt. In zwei Podiumsgesprächen haben wir mit DDR-Zeitzeug*innen sowie mit Vertreter*innen der nächsten, um 1989/90 geborenen Generation über die Erfahrungen von Jüdinnen*Juden, Schwarzen und People of Color vor und nach 1989/90 sowie über aktuellem Antisemitismus und Rassismus im Osten Deutschlands gesprochen.
Im Podiumsgespräch 2022 haben wir ein Zwischenresümee aus unseren Projekterfahrungen gezogen und uns mit anderen Berliner Praktiker*innen über die Bedeutung der Kategorien Ost und West für die politische (Jugend-)Bildung zu Antisemitismus und Rassismus ausgetauscht. Unter welchen Umständen sind beispielsweise in der Bildungsarbeit spezifische Zugänge für Ostberliner Teilnehmendengruppen sinnvoll, und wie sollten inklusive Bildungsangebote gestaltet werden, die sowohl Ost- als auch Westberliner Erfahrungsräume einbeziehen? Oder spielt die frühere Teilung der Stadt gerade für Jugendliche vielleicht heute doch gar keine Rolle mehr und muss deshalb in der schulischen und außerschulischen Bildung auch nicht mit bedacht werden?
Tatjana Volpert
BildungsBausteine e. V.
Lev Shulov
Fachstelle TKVA – Treptow-Köpenick für Vielfalt und gegen Antisemitismus der pad gGmbH
Rosa Fava
ju:an – Praxisstelle antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit der Amadeu Antonio Stiftung
Renate Pulz
BildungsBausteine e. V.
Die Veranstaltung findet im Rahmen des Projekts „Bewegte Vielfalt in Berlin“ statt.